„Ein totalitären Regime erkennt man immer schon am Kindergarten“, erklärt Mario Röllig, DDR-Flüchtling und Stasi-Opfer. „Wir haben Soldatenlieder gesungen und mit fünf gelernt, im Gleichschritt zu marschieren.“ Mit diesen nachdenklich stimmenden Worten beginnt der Berliner seinen 75-minütigen Vortrag vor 75 tief beeindruckten Zwölftklässlern in der Mensa des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums.
Kein Laut ist zu hören, wenn der 1967 in Ost-Berlin geborene Röllig aus seinem Leben in einem totalitären System erzählt. Befremdliches weiß der 56-Jährige zu erzählen, z.B. von der Schulsportdisziplin „Handgranatenweitwurf“ für neunjährige Grundschulkinder oder von der Nichtzulassung zum Abitur auch von sehr guten Schülern, nur weil bereits deren Eltern – Rölligs Vater war Ingenieur – eine akademische Ausbildung erhalten hatten. Da in der DDR nicht nur ein Recht, sondern auch die Pflicht zur Arbeit bestand, bewarb sich Röllig im Gastronomiegewerbe, „was für mich das große Los war. Als Kellner im Flughafenrestaurant des auch bei Touristen aus dem Westen beliebten Flughafens Berlin-Schöneberg verdiente ich mit Schwarzumtausch mit 17 locker meine 2000 Mark.“ Zum Vergleich: Lehrer verdienten etwa 700 Ost-Mark, Ärzte 1500 pro Monat. Und da er wusste, dass es gefährlich war, sich offen kritisch zum System zu äußern, beschloss er, sich zurück- und seinen Mund zu halten.
In die Fänge der Staatssicherheit geriet Mario Röllig trotzdem, 1985, als er im Urlaub in Budapest eine Beziehung zu einem West-Berliner Lokalpolitiker aus der Wirtschaftsbranche begann. Obwohl als Kellner bestens bezahlt – gab es doch kaum Restaurants im angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat – versuchte er im Sommer 1987 über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Druck und Schikanen waren für den nicht Kooperationswilligen unerträglich geworden. „Meinen damaligen Freund hätte ich niemals verraten. Meine Eltern haben mich zu Anstand und Loyalität erzogen“, sagt er heute, obwohl ihm ohne die übliche Wartezeit von bis zu zehn Jahren von der Stasi Auto und Wohnung angeboten worden waren. Sein vergleichsweise bequemes Leben in der DDR war mit einem Schlag zu Ende, als Röllig von einem Stasi-Mann gefragt wurde: „Wo wollen Sie wohnen?“ Man werde das klären, wenn er sich als IM verpflichten würde. Mit zwei Worten als Antwort hätten dann von einem Tag auf den anderen die Schikanen begonnen: „Berlin – Charlottenburg!“
Am 25.6.1987 wurde Mario Röllig 100 Meter vor der Freiheit von ungarischen „Kopfgeldjägern“ mit Schüssen gestoppt, gefoltert und in Isolationshaft gehalten, bevor es mit einem Stasi-Sonderflug zurück in die DDR ging. Noch nach fast 30 Jahren sieht man Mario Röllig seine innere Bewegung an, wenn er von seiner fürchterlichen Zeit im Berliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen erzählt. Der junge Häftling habe mit seinem Fluchtversuch „sein Vaterland verraten und einen Atomkrieg provoziert“. Und dafür wurde der 19-Jährige mit Einzelhaft, Schlafentzug und seelischer Folter gemartert. „Bis heute bin ich der Bundesrepublik dafür dankbar, dass sie 90000 D-Mark für mich bezahlt hat, damit ich über die geheime Freikaufliste der DDR freikam und im März 1988 endlich die DDR verlassen konnte.“ Der 8.3.1988, der Tag der Ankunft in Wolfsburg, sei sein zweiter Geburtstag, den er jedes Jahr feiere. „Endlich raus, endlich frei!“
Heute fungiert Mario Röllig als Zeitzeuge an Schulen und öffentlichen Einrichtungen, führt Besucher durch Hohenschönhausen, gehört dem Vorstand der Berliner CDU an und ist in diversen gemeinnützigen Organisationen tätig, wo er sich vor allem für Minderheiten engagiert. „Von diesen Kerlen hat sich nach 1989 niemand für seine Untaten entschuldigt“, sagt er kopfschüttelnd zum Schluss. „Und sie versuchen heute wieder, unsere Demokratie zu untergraben und zu schwächen. Das darf nicht gelingen.“
Christoph Zänglein