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Kindheit und Jugend in der DDR - Zeitzeuge Mario Röllig zu Gast am Elly

„Eine Erinnerungskultur gehört immer den Verfolgten, nicht den Funktionären und Mitläufern“, stellt Mario Röllig, DDR-Flüchtling und Stasi-Opfer, fest und beendet mit diesen nachdenklich stimmenden Worten seinen 90-minütigen Vortrag vor 100 tief beeindruckten Zwölftklässlern in der Mensa des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums.

Mario Röllig begann seinen Vortrag, indem er sein Unverständnis mit Impfgegnern und Cornonademonstrierern ausdrückte, die sich selbst in einer „Coronadiktatur“ und in der „DDR 2.0“ wähnen. Törichte Äußerungen dieser Art seien immer „ein Schlag ins Gesicht der damals Verfolgten“. Aufklärung sei die beste Waffe gegen Vorurteile und Unkenntnis, auch gegen die Geschichtsklitterung im Rahmen einer sich ausbreitenden „Ostalgie“, die dem totalitären DDR-Regime „in keiner Weise gerecht wird und die es vom Kindergarten an auf eine Erziehung zum Untertan“ angelegt habe.

Kein Laut ist zu hören, wenn der 1967 in Ost-Berlin geborene Röllig aus seinem Leben in einem totalitären System erzählt. Er habe im Berliner Südosten am Müggelsee eine wunderschöne Kindheit verbracht, auch so manche Lehrer erlebt, „die uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu denkenden Menschen machen wollten“. Aber von diesen Wenigen abgesehen, habe der offizielle Lebensbereich mit stets präsentem Militär und Propaganda vor der elterlichen Haustür begonnen.

Befremdliches weiß der 58-jährige zu erzählen, z.B. von der Schulsportdisziplin „Handgranatenweitwurf“ für neunjährige Grundschulkinder oder einem öffentlichen Tadel wegen eines getragenen T-Shirts mit dem Bild des 74er WM-Kapitäns Franz Beckenbauer darauf. „Ich habe danach lange nicht verstanden, was daran politisch gewesen sein soll“, sagt er heute und schüttelt den Kopf. Völlig unverständlich äußert er sich, wenn heute einzelne Aspekte des Lebens in der DDR verharmlost werden. Ein Schulsystem, welches Eltern von kritisch fragenden Schülern vorlädt und mit Karriereverlust droht, ein Recht auf Arbeit, das aber auch gleich eine Pflicht zur Arbeit beinhaltet und mit zwei Jahren Haft droht, wenn es nicht möglich ist, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. „Was macht ihr denn, wenn ihr, nur weil bereits eure Eltern studiert haben, nach Klasse 10 die Schule verlassen müsst und euch in einem Zwangssystem keine Lehrstelle offensteht?“ Mit diesen Fragen und ehrlichen Aussagen zu seinem Leben als homosexueller Restaurantfachmann fasziniert der Berliner das Interesse seiner Zuhörer in einer unvergesslichen Geschichtsstunde.

In die Fänge der Staatssicherheit geriet Röllig 1985, als er im Urlaub in Budapest eine Beziehung zu einem West-Berliner Lokalpolitiker aus der Wirtschaftsbranche begann. Obwohl als Kellner bestens bezahlt – gab es doch kaum Restaurants im angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat – versuchte er im Sommer 1987 über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen. Druck und Schikanen waren für den nicht Kooperationswilligen unerträglich geworden. „Meinen damaligen Freund hätte ich niemals verraten“, sagt er heute, obwohl ihm ohne die übliche Wartezeit von acht bis zehn Jahren Auto und Wohnung angeboten worden waren. So war Röllig von einem Stasi-Mann gefragt worden: „Wo wollen Sie wohnen?“ Man werde das klären, wenn er sich als IM verpflichten würde. Mit seinen zwei Worten als Antwort hätten dann die Schikanen begonnen. „Berlin – Charlottenburg!“

Am 25.6.1987 wurde Mario Röllig 100 Meter vor der Freiheit von ungarischen „Kopfgeldjägern“ mit Schüssen gestoppt, gefoltert und in Isolationshaft gehalten. „Für diese Schweine keine Tränen!“, berichtet er, auch heute noch tief bewegt, wenn er von seiner fürchterlichen Zeit im Berliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen erzählt. Röllig habe mit seinem Fluchtversuch „sein Vaterland verraten und einen Atomkrieg provoziert“. Um dafür wurde mit Einzelhaft, Schlafentzug und seelischer Folter gemartert. „Bis heute bin ich der Bundesrepublik dafür dankbar, dass sie 90.000,00 D-Mark für mich bezahlt hat, damit ich über die geheime Freikaufliste der DDR freikam und im März 1988 endlich die DDR verlassen konnte.“ Der 8.3.1988, der Tag der Ankunft in Wolfsburg, sei sein zweiter Geburtstag, den er jedes Jahr feiere. „Endlich raus, endlich frei!“

Heute fungiert Mario Röllig als Zeitzeuge an Schulen und öffentlichen Einrichtungen, führt Besucher durch Hohenschönhausen, gehört dem Vorstand der Berliner CDU an und ist in diversen gemeinnützigen Organisationen tätig. „Dass von diesen Kerlen sich auch nach 1989 niemand für seine Untaten entschuldigt hat, das verstehe ich bis heute nicht“, sagt er kopfschüttelnd zum Schluss.

Christoph Zänglein